Wie sieht ein Kuschel-Abend aus?

Filme & Reportagen

Mona Lisa: Kuschelpartys! Zarte Berührungen ohne Sex! (ZDF)

Kuschelparty – Kuscheln bei „Welt der Wunder“ (RTL II)

Süddeutsche Zeitung, Wohlfühlen: Menschliche Wärme

Süddeutsche Zeitung Beilage „Wohlfühlen“ vom 28. November 2012

Es gibt Leute, die treffen sich mit Wildfremden zu Kuschelpartys. Dabei ist außer Sex vieles erlaubt. Doch wie fühlt sich so etwas an in einer sonst eher körperkontaktarmen Gesellschaft?

Ein Selbstversuch von Wessel, Claudia

So eine Menge Menschen hat zwei Seiten. Sie spendet Wärme. Sogar sehr intensiv. Arme, die übereinanderliegen. Körper, die sich aneinanderdrängen. Sie wehren sich nicht, wenn man sich dazudrängt, eine Hand auf einen Rücken legt, sich anschmiegt. Nehmen ist erlaubt in diesem “einen Körper”, den wir hier gerade bilden. Und das hat etwas von Luxus. Andererseits ist da der Atem. Heiße Luft aus unzähligen Mündern. Da sind ganz verschiedene Rhythmen, die aufeinanderprallen. Hier mischen sich Lebensenergien, die eigene steht nicht mehr im Mittelpunkt. Der Drang, sich zu lösen, kommt auf, auszubrechen, wieder Individuum zu sein. Doch dann ertönt ein Vibrieren der Stimmen und hält einen doch fest. Ein Vibrieren, das in den eigenen Körper übergeht, ein Tönen, das man auf der Haut spürt, nicht nur hört. Der Chor der vielen wirkt plötzlich wieder angenehm, gibt manchem mehr, als er alleine bekommen könnte.

Kuschelabend nennen sie das im Münchner Tanzstudio “Ben”. Dort haben sich 21 Menschen versammelt, die keine Angst vor Berührungen haben. Oder doch, sie aber trotzdem suchen. Lauter Leute, die über ihren Schatten springen, sich überwinden, sich ihren Ängsten und Sehnsüchten stellen wollen. Denn diesen beiden Aspekten in sich begegnen fast alle, die sich auf diese Art von Körperkontakt mit Fremden einlassen.

Marina Lahann ist Tantra-Lehrerin und leitet den von ihr veranstalteten Kuschelabend gemeinsam mit einem männlichen Partner. Ihre sanfte esoterische Stimme, die Dinge sagt, die man im normalen Alltag absurd oder peinlich finden würde, wirkt dabei als zentrales Instrument. Wer das Gefühl der Peinlichkeit erst einmal ausgeschaltet hat, soll einen Abend erleben, an dem er wieder Kind sein darf, auf eine Art, und daher auch Kinderspiele machen darf. Kinder-Kuschel-Spiele so wie einst mit den Geschwistern, den Eltern, den Freunden.

Wie man Menschen auftaut

Im Erwachsenen-Alltag, im Berufsleben, ist Körperkontakt weitgehend tabu: das Bedürfnis, sich anzulehnen, einen sympathischen Menschen anzufassen. Aber an einem Abend wie diesem will Marina Lahann den Teilnehmern helfen aufeinander zuzugehen. Das Lächeln, das dabei stets auf ihren Lippen liegt, ist spürbar auch in ihren Worten: “Lausche auf dein Herz dreh dich um deine Mitte lass einen Sturm durch dich wehen genieße den Moment der Stille.” Ihr Singsang umgibt alle, während man händchenhaltend im Kreis steht, mit all diesen Leuten, die man noch nie gesehen hat.

Die Wärme aus den fremden Handflächen ist das Erste, was einen durchdringt. Mehr wird folgen. Das Herz klopft schon aufgeregt. Der zweite Schritt ist eine sanfte Verdunklung des Raums. Drei Personen gehen jetzt jeweils zusammen, eine darf sich in die Mitte stellen und wird von den anderen “aufgetaut”.

Berührt, ganz leicht, und damit sachte in die ungewohnte Wahrnehmung geführt. Den ganzen Abend und bei allen Berührungsspielen bekommt man nur zarte, sanfte Bewegungen zu sehen. Marina Lahann fordert die Einzelnen auf, Wünsche zu äußern, wie sie angefasst werden möchten. Sie ermutigt jeden, im Menschenknäuel den Platz zu wechseln. Man darf Hände entfernen und Nein sagen. Das betont Lahann immer wieder. Und man darf abseits bleiben, wenn es einem zu viel wird.

Der Fall trifft aber offenbar selten ein. Vielleicht weil viele bleiben, auch wenn es ihnen eigentlich zu viel ist. Weil sie sich selbst kennenlernen wollen. Wissen, wie sich das genau anfühlt, dieses “Zuviel”. Denn auf diesem “Glückshaufen”, wie Marina Lahann das nennt, was den dritten und letzten Teil des Abends ausmacht, das “Kuscheln nach Wahl” ohne Vorgaben, passiert so einiges im Inneren der Beteiligten. Da gibt es Glückssekunden und Hingabemomente, Abwehrgefühle und Ekelanflüge, den Wunsch nach mehr, viel viel mehr und am liebsten sofort. Die Befürchtung, es sowieso nie zu bekommen, immer der Ausgeschlossene zu bleiben. Das wohlige Gefühl, doch dazuzugehören, als Teil des Ganzen. Ein archaisches Erkennen: So muss es gewesen sein in den Anfängen der Menschheit, als man sich einfach Wärme gab, um zu überleben. Manchem kann es sogar Angst einflößen, dass er wieder gehen muss, allein hinaus in den kalten Winterabend. Ein bisschen Wärme aber nimmt er garantiert mit.

Kuschelpartys gibt es mittlerweile in vielen deutschen Städten. Und im “Ben” sogar an Heilig Abend.

Claudia Wessel, München

Stern: Wie Berührung auf uns wirkt

Stern Magazin, Ausgabe 27/2015

Wann fassen wir einander an. Und warum sind Berührungen so wichtig beim Kontakt zwischen Menschen. Haptik-Forscher Martin Grunwald erklärt, wie uns unser Tastsinn in unserer Entwicklung beeinflusst.

von Tobias Schmitz

Die unbewusste Macht der Berührung

Herr Grunwald, warum gibt es in diesen Zeiten so viele Menschen, die ihr Smartphone streicheln, während sie sich nach echten Berührungen sehen?

Einerseits ist das Bedürfnis nach Körperlichkeit besonders groß, wenn der Mensch Schutz sucht: in angstbesetzten Situationen und in unsicheren Zeiten. Andererseits verlieren wir immer mehr unsere Fähigkeit zur Gemeinschaft und Gemeinsamkeit. Das Miteinander-Sein ohne konkrete Aufgabe, ohne Ziel, einfach nur um des Zusammenseins willen, wird offensichtlich weniger. Wie leben heute gerne zielgerichtet, aber im Unverbindlichen.

Was hat das mit Berührung zu tun?

Körperlichkeit hat immer etwas mit Verbindlichkeit zu tun. Wir haben hundert Freunde auf Facebook, finden aber keinen Kumpel, der uns dabei hilft, einen Schrank die Treppe runterzutragen. Das Bedürfnis nach Nähe bleibt, wird aber immer weniger befriedigt. Wie vermitteln Menschen einander Zuneigung und Vertrauen? Nicht, indem sie Likes setzen, sondern indem sie sich irgendwann mal anfassen. Die zentralen Botschaften des Körpers werden körperlich vermittelt. Aber Facebook umarmt nicht. Wir haben zu viel Arbeit und zu wenig Körperlichkeit.

Macht das den Erfolg von Wellness-Oasen aus?

Wir haben zu viel Arbeit und zu wenig Körperlichkeit. Wir „verrotten“ acht, zehn Stunden am Tag vor unseren Plastiktastaturen und Rechnern. Dafür sind wir nicht konstruiert.Und die Wellness-Industrie lacht sich darüber ins Fäustchen. Früher meinte Wellness ein Dampfbad, heute ist es die Vierhand-Massage.

Inwiefern ist Berührung ein Grundbedürfnis?

Der Mensch ist dreidimensional konstruiert. Die Haut ist nicht nur Schutz, sondern auch Körpergrenze. Und diese muss ich als Mensch immer wieder erfahren und im Wortsinne begreifen. Der Mensch kann ohne Geschmackssinn leben, ohne Gehör, sogar ohne Augenlicht. Aber Sie bleiben nicht gesund, wenn Ihnen der Körperkontakt genommen wird. Säugetiere, die nicht körperlich stimuliert werden, degenerieren oder sterben. Der biologische Reifungsprozess setzt voraus, dass der Organismus sicher ist, dass ein Gegenüber existiert. Er muss fühlen: Es gibt den anderen. Und es gibt mich. Berührungen sind in manchen Phasen unseres Daseins ein regelrechtes Lebensmittel.

Vor allem in unserer Kindheit?

Nein, das Bedürfnis nach Körperkommunikation durchzieht unser ganzes Leben, vom Embryo bis zum Greis. Sie können einem demenzkranken Menschen nichts mehr erklären. Aber Sie können ihm unendlich viel geben – durch Berührung. Bei jüngeren Erwachsenen ist das nicht anders. Ich glaube zum Beispiel, dass viele Menschen auch mit „One Night Stands“ in erster Linie Wärme und Nähe suchen. Vor allem Männer können dieses Bedürfnis aber schlecht ausdrücken. Die bekommen eher einen Joint angeboten als einfach mal so eine freundschaftliche Umarmung.

Was passiert mit Menschen, denen in entscheidenden Phasen ihres Lebens zu wenig Berührungen zuteil wurden?

Sie nehmen unter Umständen Schaden. Wir forschen auch zu den Ursachen für Anorexia nervosa, also Magersucht. Manche Wissenschaftler sind der Ansicht, die Krankheit sei genetisch angelegt. Unsere Hypothese geht in eine andere Richtung.

In welche?

Wir gehen von einer Entwicklungsstörung aus. Von einem Mangel an Körperkontakt in bestimmten Reifungsphasen. Die Kranken erleben ihren Körper anders, als er sich objektiv darstellt. Ein völlig abgemagerter Mensch sagt unter Tränen, dass er seinen fetten, aufgedunsenen Leib hasst. Er hat offenbar kein adäquates Körperschema ausbilden können. Erlebt der Heranwachsende zu wenig seine eigene Körperlichkeit durch den körperlichen Kontakt zu anderen, erfährt er zu wenig über seine Körpergrenzen. Er entwickelt kein angemessenes dreidimensionales Bild von sich selbst. Wir wissen, dass in Familien häufiger Fälle von Anorexia nervosa auftreten, in denen es emotional eher kühler zugeht, eher kognitiv, eher leistungsorientiert. In Familien also, in denen Körperlichkeit und Berührungen eher zu kurz kommen.

Wie können Sie Betroffenen helfen?

Wir haben für die Patienten einen sehr eng anliegenden Anzug aus Neopren entwickelt, der bei jeder Bewegung des Körpers zu spüren ist. Der Anzug gibt sozusagen Feedback. Dadurch erfahren viele Betroffene zum ersten Mal ihre Körpergrenzen. Das Gehirn begreift durch den haptischen Kontakt eher die wirklichen Ausmaße des erkrankten Körpers. Der Anzug kommt bereits an mehreren Kliniken zum Einsatz. Eine Studie zur Wirksamkeit läuft.

SPEZIALGEBIET TASTSINN
Haptik-Forscher Martin Grunwald

Martin Grunwald, 49, ist habilitierter Psychologe und forscht an der medizinischen Fakultät der Universität Leipzig. Der Haptik-Experte ist Autor des Buches “Human Haptic Perception – Basics and Applications”.

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